Das Lernen wird zunehmend digitaler. Die Corona-Pandemie gab dieser Entwicklung noch einmal einen Schub. Jetzt zeigt sich immer mehr, wie facettenreich das Thema “digitales Lernen” ist. Die beiden HRpepper-Expertinnen Johanna Matthes und Sara Ivers-Tiffée sprechen in folgendem Interview über neue Lernkulturen, digitale Inklusion, Gerüche im Homeoffice sowie aktuell gefragte Kompetenzen in der Personalentwicklung.
Wie veränderte sich das Lernen in den vergangenen Jahren aus eurer Sicht?
Johanna: „Lebenslanges Lernen“ ist nach wie vor ein großes Thema und sicherlich kein neuer Trend. Was sich jedoch stark wandelt, ist die Art, wie wir lernen. Darauf hat die Digitalisierung einen massiven Einfluss. Die Studie „Weiterbildung 2025“, die HRpepper 2020 gemeinsam mit der Bitkom Akademie durchführte, verdeutlicht: Die Mehrheit der Befragten geht davon aus, dass Lernformate kürzer werden und seltener in Präsenz stattfinden. Auch im Privaten sind wir es gewohnt, uns in kürzeren Einheiten und nebenbei zu informieren. Wir lernen mit Podcasts, YouTube-Videos und kurzen Online-Artikeln. Sie zeigen uns an, wie lange die durchschnittliche Lesezeit voraussichtlich betragen wird. So verwundert es kaum, dass dieser Trend immer mehr auf die Art überschwappt, wie wir im beruflichen Kontext lernen. Vor Corona war es gang und gäbe in Präsenz zu trainieren, insbesondere, wenn es um Soft Skills ging, wie klassischerweise bei der Führungskräfteentwicklung. Mittlerweile schaffen wir Vertrauen und Austausch auf Augenhöhe auch im digitalen Raum. So können wir wirksam zusammen interaktiv lernen, selbst dann, wenn wir uns physisch nicht im selben Raum befinden.
Was davon wird bleiben, wenn Corona vorbei ist?
Johanna: Unsere Vermutung ist, dass sich das Digitale stärker mit Präsenzangeboten vermischen wird. Im Bereich der gezielten Talententwicklung zum Beispiel werden wir sicherlich vermehrt auf hybride Blended-Learning-Formate setzen, also einer Mischung aus digitalen ort- und zeitunabhängigen Self-Learning-Formaten sowie virtuellen und physischen Live-Lernformaten. Ob wir es wirklich schaffen, digitales Lernen als Kernelement in der Personalentwicklung zu verankern, wird jedoch davon abhängen, ob wir auch eine digitale Lernkultur etablieren – neues Arbeiten braucht neues Lernen.
Was versteht ihr unter einer digitalen Lernkultur?
Johanna: Digitale Lernkultur lässt sich im Kontext von New Work verorten. Eine digitale Lernkultur zeichnet aus, dass:
- …der Mensch im Mittelpunkt steht. Insbesondere in der Personalentwicklung dürfen wir nicht rein technikzentriert vorgehen, sondern sollten uns stattdessen auf menschliche (Lern)Bedürfnisse fokussieren. Das Motto ist “human first, digital second”. Die Digitalisierung des Lernens ist kein Selbstzweck. Sie sollte dem Menschen dienen.
- …Lernen selbstorganisierter und individualisierter wird. Mitarbeitende können selbst entscheiden, was für ihren individuellen Entwicklungspfad die richtigen Lerninhalte sind. Sie lernen nur, was sie wirklich brauchen. So verändert sich auch die Rolle der Lernenden selbst.
- …Personalentwickler*innen stärker in einer Coaching- oder Mentoring-Rolle unterwegs sind, um Mitarbeitende auf ihrem Entwicklungsweg zu begleiten und sie zu befähigen, selbst zu entscheiden, was sie lernen müssen, um ihr Ziel zu erreichen, statt es von oben zu diktieren.
- …digitale Tools nicht nur genutzt werden, um Inhalte zu vermitteln, sondern auch, um Menschen bei der Entscheidung für Lerninhalte zu unterstützen (zum Beispiel durch KI bzw. digitale Self-Assessments) oder sie mit angrenzenden HR-Themen wie Talent- oder Performance Management in integrierten Plattformen zu vernetzen.
- …Peer Learning und selbstorganisiertes Lernen gestärkt werden, indem digitale Räume des Austauschs geschaffen werden oder Nutzer*innen selbst Lerninhalte erstellen und auf Plattformen platzieren (User generated content).
- …digitale Skills verstärkt erlernt werden, um so langfristig das Lernen und die Arbeitswelt digitaler zu denken.
Beobachtet ihr an euch selbst ein verändertes Lernverhalten?
Sara: Für mich geht es hauptsächlich um die Kürze und Flexibilität von Lerninhalten. Ich merke immer wieder, dass Lernformate, bei denen ich selbst vorspulen und mir die Einheiten so zusammenwürfeln kann, wie es mir gerade passt, deutlich länger hängen bleiben als andere. Podcasts beispielsweise, die über eine Stunde gehen, spule ich oft vor bzw. überspringe ich Passagen, die mich weniger interessieren.
Ich finde die Seite Ted Talks macht das sehr sympathisch, weil man parallel das Skript der Videos mitlesen kann. Zudem werden auf der Seite weitere Inhalte empfohlen, die mein Interesse wecken – ähnlich wie mir Spotify Lieder vorschlägt, die ich noch nicht kenne, die aber zu meinem „Geschmack“ passen. Es gibt bereits einige Learning-Content Provider, die ähnliche Algorithmen im Einsatz haben. So macht mir Lernen Spaß.
Johanna: Ich beobachte an mir ebenfalls seit einigen Jahren, dass ich verstärkt auf Audio-Inhalte wie Podcasts setze. Früher war ich der Ansicht, dass ich viele Bücher lesen muss, um mich weiterzubilden. Ich machte allerdings die Erfahrung, dass ich persönlich auditiv viel mehr behalte und mehr Inhalte im Audioformat konsumieren kann. Das hat sicherlich damit zu tun, dass ich es schaffe, diese Art des Lernens besser in meinen Alltag zu integrieren, etwa beim Joggen oder Kochen. Mittlerweile gibt es so einen starken Podcast-Boom, dass fast jedes Lerninteresse bedient wird.
Bei HRpepper habt ihr euch in letzter Zeit viel mit dem Thema „digitales Lernen” beschäftigt. Was zeichnet es aus und was sind die Vorteile?
Johanna: Es geht nicht nur um digitales Lernen, sondern um virtuelles Arbeiten allgemein. Allein durch die Veränderungen in vielen Unternehmen hin zu mehr Homeoffice lernten Mitarbeitende automatisch neue Fähigkeiten zu Kommunikation und Kollaboration im digitalen Raum. Wieder einmal bestätigt sich: Am besten lernen wir in der Praxis durch Erfahrung. Erst im Tun erlangen wir konkrete Fähigkeiten, die sich durch Wiederholung verankern. Ein Vorteil des digitalen Lernens ist, dass wir uns parallel zu den Inhalten neue Fähigkeiten aneignen durch die digitalen Tools, die wir im Lernprozess nutzen. Weitere Vorteile des digitalen Lernens sind:
- Die Flexibilität im Sinne der Unabhängigkeit von Ort – und teilweise auch Zeit.
- Die Stärkung der Selbstorganisation, da Mitarbeitende in digitalen Content Libraries zum Beispiel selbst Inhalte auswählen und entscheiden können, wann und wo sie diese konsumieren.
- Die Kombination mit Wissensmanagement – digitale Lerninhalte lassen sich viel leichter in Wissensdatenbanken übernehmen. Außerdem kann durch Performance Support Systeme genau in dem Moment das Wissen vermittelt werden, wo es gebraucht wird, etwa, um ein bestimmtes Tool zu erlernen.
- Die Möglichkeit von integrierten Plattformen, Schnittstellen zu angrenzenden Themen wie Talent- oder Performance Management zu bedienen.
- Die Option, dass Expert*innen in Organisationen zu Trainer*innen werden können, indem sie eigene digitale Lerninhalte erstellen.
- Mehr Spaß beim Lernen durch diversere Formate und Learning Experience-Plattformen, die das Erlebnis der Nutzer*innen in den Vordergrund stellen.
- Kurze Lerninhalte, die besser verarbeitet werden. Statt langer Präsenztrainings werden die Lerninhalte in kleinere digitale Häppchen (zum Beispiel Learning Nuggets) aufgeteilt. So lassen sie sich leichter verarbeiten und in den Arbeitsalltag integrieren.
Seht ihr auch Nachteile bezüglich des digitalen Lernens?
Johanna: Natürlich gibt es auch Nachteile. Trotz der Möglichkeiten der Videotelefonie oder der Kollaboration mit digitalen Whiteboards spüren wir bei digitalen Trainings ein gewisses Maß an Distanz im Gegensatz zum physischen Kontakt und auch eine schnellere Ermüdung der Teilnehmenden (und Trainer*innen). Bestimmte Elemente wie der Raum selbst, Berührungen wie Hände schütteln, das bessere Wahrnehmen von Mimik und Gestik und auch so etwas wie Geruchsempfinden fehlen im digitalen Raum.
Wir sind uns im wahrsten Sinne des Wortes weniger nah und – auch sehr wichtig – wir machen im gleichen Moment nicht genau dieselben Erfahrungen. Bei der einen ist es besonders laut, weil gebaut wird, bei dem anderen spielen die Kinder im Hintergrund und bei der nächsten riecht es nach der Kartoffelsuppe auf dem Herd. All das sind individuelle Erlebnisse, die zum einen die Lernerfahrung beeinflussen können, zum anderen aber auch nicht mit anderen geteilt werden. Das erschwert die Herstellung eines gemeinschaftlichen Gruppengefühls, das besonders wichtig ist, um einen sicheren Lernrahmen zu schaffen. Hier ist eine wichtige Rolle der Trainer*innen, diese Distanz bestmöglich auszugleichen.
Eine weitere Gefahr besteht darin, einzelne Lernende abzuhängen, da sie nicht befähigt werden, mit den neuen Lerntools zu arbeiten. Ich erlebte bisher fast niemanden, der es nicht mit ein bisschen Übung geschafft hat, die Tools zu bedienen. Es ist jedoch wichtig, genau für diese Befähigung Zeit einzuräumen – insbesondere, wenn weniger technikaffine Menschen unter den Lernenden sind. Achten die Moderatoren nicht darauf und hängen diese Menschen ab, kann die Digitalisierung auch das Lernen behindern. Wichtig ist also, nicht nur Inhalte zu vermitteln, sondern die Menschen auch zur Nutzung der entsprechenden Tools wie dem digitalen Whiteboard zu befähigen.
Digitale Inklusion ist euch wichtig, also, dass so viel Menschen wie möglich in den Genuss des digitalen Lernens kommen. Welche Voraussetzungen müssen dafür in Unternehmen gegeben sein? Wie viel Technik-Affinität braucht es heute, um effektiv digital lernen zu können?
Sara: Das Einführen von neuen Tools und Technologien am Arbeitsplatz ist toll und definitiv der Weg in die Zukunft, allerdings wird dabei oft zu wenig an das Thema “Change“ sowie die digitale Inklusion gedacht.
Folgendes Szenario erleben wir häufig: Das Budget für die neue Learning-Plattform ist genehmigt, sie wird eingekauft und implementiert. Alle sind begeistert und können es kaum abwarten, dass es endlich losgeht und die Software für alle Mitarbeitenden freigeschaltet wird. Nach einem kurzen Interessen- und Beteiligungs-Peak, flacht die Kurve ab und die Besucherraten stagnieren. Fazit: Das teuer eingekaufte und mühsam implementierte Tool wird nicht genutzt.
Bevor Verantwortliche also eine Technologie einkaufen, ist es wichtig, die Zielgruppen innerhalb der eigenen Organisation genau zu kennen: Haben alle Mitarbeitenden im Büro und im Homeoffice Zugang zur entsprechenden Infrastruktur, um die Technologie zu nutzen? Besitzen sie das technische und digitale Know-how, um sich damit zurechtzufinden? Wurde dieses Wissen über Zielgruppe und User gesammelt, lässt sich die entsprechende Change-Kommunikation entwickeln und damit Befähigungsformate, die dabei helfen, alle mitzunehmen – von “Generation analog” bis “Digital Native”. Natürlich gibt es große Unterschiede in der “user friendliness” von Software. Aber ich bin überzeugt, dass mit den richtigen Befähigungsformaten jede und jeder in der Lage ist, auch digital zu lernen.
Wie verändert der Trend des digitalen Lernens die Rolle der Personalentwicklung in den Organisationen?Was können oder müssen sie leisten?
Sara: Nicht nur für Mitarbeitende der Personalentwicklung, sondern für alle gilt in Zukunft das „Lebenslange Lernen“. Damit verbunden ist, dass wir uns zunehmend mit modernen Tools und Technologien auseinandersetzen müssen. Das bedeutet, dass sowohl Mitarbeitende mehr digitale Kompetenz benötigten als auch diejenigen, die die Steuerung und Administration im Hintergrund übernehmen. Der Implementierungsprozess einer Software wie eines Learning Management Systems ist oft sehr aufwändig und funktioniert in seltenen Fällen reibungslos. Es braucht ein gutes Zusammenspiel aus Personalentwicklung, interner IT und dem jeweiligen Tool-Anbieter. Bekommen Personalentwickler*innen den Auftrag, solch ein Implementierungsprojekt zu begleiten, rutschen sie schnell in eine deutlich technischere Rolle, als ihnen vielleicht lieb ist.
Außerdem ist es mit einer einmaligen Implementierung oft nicht getan. Tools müssen aktualisiert, mit anderen verknüpft, neue Features eventuell eingeführt werden. Es gibt viele Entscheidungen, die ein sehr technisches Know-how verlangen. Gleichzeitig sind interne IT-Abteilungen oft ausgelastet, da sich ja jeder Unternehmensbereich derzeit digitalisiert. Daher empfehlen wir Personalabteilungen, sich das digitale und technologische Know-how ins Team zu holen.
Es gibt bei HRpepper das Themenfeld „Lernen gestalten“. Welchen Fokus hat das digitale Lernen, wenn es um die Beratung im Rahmen des Themenfeldes geht?
Johanna: Ein stark angefragtes Thema bei „Lernen gestalten“ ist die Führungskräfteentwicklung. Klassischerweise wurden hier die Entwicklungsformate hauptsächlich in Präsenz oder hybriden Formaten durchgeführt. Aktuell setzen wir jedoch auf eine rein digitale Durchführung. Neben diversen Videokonferenz-Tools nutzen wir digitale Whiteboards und Lernplattformen, um ein möglichst umfassendes Lernerlebnis zu garantieren. Nach Corona wird sicher ein Teil weiter digital laufen. Wir gehen jedoch davon aus, dass gerade bei den „weicheren Themen“ auch wieder einiges in Präsenz stattfinden wird. Langfristig setzen wir hier auf hybride Ansätze.
Unterstützen wir darüber hinaus Organisationen bei der Entwicklung einer Personalentwicklungsstrategie, berücksichtigen wir zudem die Förderung einer digitalen Lernkultur. Der große Vorteil an digital ausgerichteten Personalentwicklungsstrategien ist, dass sie sich oft international ausrichten lassen. Bei einem unserer Kunden ermöglichten unsere digital entwickelten Lernformate beispielsweise, dass wir neben den deutschen Führungskräften nun auch die indischen und chinesischen trainieren dürfen.
Weiterhin begleiten wir Unternehmen dabei, sich in der Welt der digitalen Lerntools zurechtzufinden und im digitalen Raum eine optimale zielgruppengerechte Learning Experience zu kreieren.
Im Bereich digitales Lernen gibt es eine Vielzahl an Anbietern. Welches Vorgehen empfehlt ihr hinsichtlich der Auswahl von Dienstleistern?
Johanna: Der Markt zu Digital Learning-Tools ist extrem unübersichtlich. Viele Personalbereiche erhalten oder geben sich den Auftrag, digitaler zu werden – ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, was das konkret bedeutet. Das betrifft die Personalentwicklung gleichermaßen.
Zuallererst stellt sich also immer die Frage: Was ist das Ziel der Digitalisierung? Welcher Schmerz soll gelöst werden? Ausgehend vom Ziel lässt sich dann eruieren, in welchem Toolsegment sich die Organisation umschauen sollte. Geht es darum, Talentprogramme und Trainings besser zu verwalten? Dann ist vielleicht ein Learning Management System das Richtige. Oder möchte die Personalentwicklung mehr digitalen Content in ein bestehendes Entwicklungsprogramm einbinden? Dann kann sie sich auf den gängigen Content-Plattformen umsehen. Soll ein großes Coaching-Programm etabliert werden? Dann könnte eine Coaching-Plattform das Richtige sein. So oder so sollte im besten Fall eine Strategie dahinterstehen, die den Weg und das Ziel bezüglich des digitalen Lernens verdeutlicht, bevor blind neue digitale Tools eingeführt werden. Es sollte klar sein, wie die Technologie die Bedürfnisse der Nutzenden erfüllt und ihnen das Arbeitsleben erleichtert. Nicht zuletzt, um die Sinnhaftigkeit den zunächst oft noch skeptischen Mitarbeitenden kommunizieren zu können.