Bevor wir über New Work reden, sollten wir erst einmal lernen zusammenzuarbeiten. In vielen Unternehmen funktioniert das ganz und gar nicht. Dabei ist eine effektive Zusammenarbeit die Basis jeden Unternehmenserfolgs.

Besuch in einem einschlägigen Berliner Co-Working-Space. Wer hier in erster Linie Start up-Romantik, kreativen Austausch diverser Kleinunternehmer und nerdige Programmierer erwartet, wird bitter enttäuscht. Stattdessen: Hipster soweit das Auge reicht, Minibüros mit dem Charme von Legebatterien und vor allem: fast ausschließlich etablierte Unternehmen und Konzerne an den Türschildern. Auch der letzte DAX- und MDAX-Lenker hat inzwischen verstanden, dass der digitalen Transformation im Elfenbeinturm nicht beizukommen ist. In den Co-Working-Spaces, Labs und Hubs der Republik etablieren die Konzern-Chefstrategen daher agile Speed-Boote, digitale Spin-offs und massiv subventionierte Tochterfirmen, die die Geschäftsmodelle der Zukunft revolutionieren sollen.

In diesem Zuge erfahren auch diverse Ansätze für ein neues (Zusammen-)Arbeiten einen gigantischen Schub. Unter dem Sammelbegriff „New Work“ tummeln sich die unterschiedlichsten Konzepte, wie zum Beispiel selbstorganisiertes Arbeiten, Holacracy, Führungskräftewahlen, gesellschaftlicher Impact, flache Hierarchien und digitales Nomadentum. Jeder Ansatz für sich ist faszinierend und hat enormes disruptives Potenzial.

Dabei gibt es nur ein Problem: Für viele Menschen außerhalb der New Work-Echokammer klingen diese Konzepte nach völlig abgehobener Science Fiction. Wer selbst nicht zu den „Digital Natives“ gehört und bei einem traditionellen Mittelständler oder beim Katasteramt Oer-Erkenschwick arbeitet, dürfte relativ verständnislos gucken, wenn er plötzlich in den „Purpose“ seiner Organisation hineinspüren soll. Aber auch innovativere Unternehmen sollten sich genau überlegen, ob es wirklich eine gute Idee ist, in Bezug auf die eigene Personal- und Organisationsentwicklung den zweiten oder gar dritten Schritt vor dem ersten zu gehen.

Grundstein für Veränderungen

Ich bin überzeugt: Bevor man Mitarbeitende mit dem „letzten Schrei“ der New Work-Lawine überrollt, lohnt es sich, erst einmal die Potenziale „normaler“ Zusammenarbeit zu heben. In den allermeisten Unternehmen liegen diese nämlich wie ein versunkener Goldschatz unter verkrusteten Strukturen, mangelnder Wertschätzung und eingeschränkter Kommunikation verborgen. Dabei sind es genau diese basalen Fähigkeiten, die den Grundstein legen, um später auch tiefergreifende Veränderungen erfolgreich zu bewältigen.

An alle Unternehmenslenker und HR-Experten: Eure Leute verlassen Euch nicht, weil Euer Vorstand berufen anstatt gewählt wurde. Sie gehen, haben innerlich gekündigt oder leisten Dienst nach Vorschrift, weil in Euren Konzernzentralen mehr gegen- als miteinander gearbeitet wird, und weil die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden zu wenig Berücksichtigung finden. Letzteres hat übrigens auch damit zu tun, dass viele Menschen nie systematisch gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu verstehen und zu kommunizieren.

Ein sinnvoller erster Schritt, lange bevor man sich auf oftmals bisher kaum evidenzbasierte New Work-Abenteuer einlässt, trägt den Namen Radical Collaboration („radikal“ von „radix“ – die Wurzel; folglich „Zusammenarbeit von der Wurzel her“). Dabei handelt es sich um ein über viele Jahre international angewendetes, wissenschaftlich validiertes Curriculum, das fünf zentrale Kompetenzen in den Fokus nimmt, um in Teams und Unternehmen (sowohl intern als auch organisationsübergreifend) die Zusammenarbeit diverser Stakeholder nachhaltig zu stärken:

  • Kooperationsbereitschaft: In vielen Unternehmen ist die Arbeit ein täglicher Überlebenskampf. Es bestehen starke Rivalitäten zwischen Kollegen, Führungskräften und unterschiedlichen Abteilungen. Fehler werden verborgen oder anderen in die Schuhe geschoben. Natürlich wird so jedes Vertrauen untergraben. Wie wäre es, wenn wir stattdessen alle verstünden, dass jeder Mensch Abwehrstrategien nutzt, wenn er unter Druck gerät? Wenn wir lernten, sowohl unsere eigenen als auch die „wunden Punkte“ anderer zu erkennen, und ein Klima zu schaffen, in dem sich niemand bedroht fühlen muss? Dann würde auch die Bereitschaft zu echter Zusammenarbeit wachsen.
  • Aufrichtigkeit: Auch wenn Lügen gesellschaftlich verpönt sind, nutzen die meisten Menschen sie doch jeden Tag. Oftmals gilt auch im Büro der Grundsatz: „Kleine Unwahrheiten schützen den Betriebsfrieden“, was nichts anderes bedeutet als „Ich traue mir/dir/ihr/ihnen nicht zu, mit meiner Wahrheit umgehen zu können“. Wie wäre es, wenn wir nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber uns selbst das Vertrauen aufbrächten, dass schwierige, offen geführte Gespräche unsere Beziehungen weiterbringen?
  • Eigenverantwortung: „Warum übernehmen unsere Leute nicht mehr Verantwortung?“ Es gibt wohl kaum eine andere Wehklage, in die so viele Unternehmensbosse unisono einstimmen würden. Die Antwort ist komplex und schmerzhaft: Weil viele Menschen gelernt haben, dass das Leben recht bequem sein kann, wenn man ständig anderen die Schuld gibt. Und weil viele Unternehmen kaum Anreize für echte Eigenverantwortung setzen. Wie wäre es, wenn jeder von uns im Arbeitsalltag nur zehn Prozent proaktiver agierte?
  • Selbstbewusstsein: Ein Großteil der zwischenmenschlichen Spannungen am Arbeitsplatz ist darauf zurückzuführen, dass Kollegen unterschiedliche Bedürfnisse und Präferenzen haben. Manche wollen in jedem Meeting dabei sein, andere am liebsten in keinem. Manche wollen möglichst alles selbst bestimmen, andere lieber klare Ansagen bekommen. Manche wollen viel Persönliches teilen, für andere gehört Derartiges nicht ins Büro. Wie wäre es, wenn wir unsere Bedürfnisse und die unserer Mitmenschen besser verstünden und uns flexibler auf unweigerliche Unterschiede einstellen könnten?
  • Problemlösung und Verhandlung: Konflikte sind im Arbeitsleben an der Tagesordnung. Die Fronten müssten sich aber nicht so oft verhärten. Wie wäre es, wenn wir uns bewusstwürden, dass auch bei vordergründig gegensätzlichen Positionen die zugrundeliegenden Interessen oftmals große Schnittmengen haben?

Auch die fünf zentralen Kompetenzen von Radical Collaboration müssen von entsprechenden Strukturen und Prozessen, zum Beispiel im Performance Management, begleitet werden, wenn sie langfristig ihre Wirkung entfalten sollen. Zwei Punkte sind jedoch klar: Man kann diese Kompetenzen in vergleichsweise kurzer Zeit erlernen. Und: Ohne sie wird jedes New Work-Pflänzchen zum Spielball, wenn im unternehmerischen Alltag der Wind auffrischt und der zunehmende Druck durch die VUKA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) voll durchschlägt.

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Von

Arne Reis

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