Technologie ist (k)eine Lösung, um Stress zu reduzieren

BION_04-2020

Die Vorteile neuster Informations- und Kommunikationstechnologien liegen auf der Hand: Raum- und zeitunabhängige Zusammenarbeit, Ersparnis unnötiger Reisezeiten, effizientere Kommunikation, transparente Terminkoordination. Aber nimmt uns der „Digital way of life“ in der Arbeitswelt wirklich nur Last ab?

Von Sonja Bogenschütz

Wir kennen es alle – die verführerische Macht der Informations- und Kommunikationstechniken (IKT) – den Bann, in den sie uns tagtäglich ziehen. Ein paradoxes Gefühl, hin und her gerissen zwischen dem wohligen Gefühl konstanter Aufmerksamkeit und den erdrückenden Momenten permanenter Reizüberflutung. Die digitale Revolution hat das vor vielen Jahren erlernte Konzept der Trennung zwischen Online und Offline verzerrt und so hat sich die Symbiose der beiden Welten mittlerweile sogar als Normalität in unseren Alltag eingeschlichen.

In Tagen wie diesen ist es nun umso wichtiger, sich genau das bewusst zu machen und die Herausforderungen, die Chancen, aber auch die Auswirkungen dieser digitalen Zeiten zu verinnerlichen. Sich die Frage zu stellen, was die Verschmelzung von digital und analog für uns als Privatperson bedeutet und was als ArbeitnehmerIn. Was bedeutet das für unsere aktuelle Arbeitswelt, in der Remote-Arbeit immer selbstverständlicher?

Die Vorteile heutiger IKT liegen auf der Hand und das mehr als je zuvor. Während ein Virus uns in den Hausarrest zwingt, ermöglichen es digitale Tools vielen Arbeitnehmenden weiterhin produktiv zu arbeiten. Virtuelle Meetings erlauben ortsunabhängige Zusammenarbeit, digitale Kalender schaffen Transparenz, kurze Wege und leichte Abstimmungen. Und trotzdem vergessen wir schnell, dass Technologie oft auch seinen Preis hat. So findet jedes Meeting vor einem Bildschirm statt, hier eine Videokonferenz, hier eine E-Mail, dort eine neue Ablage auf dem Server, ein neuer Post im Intranet, eine neue Push-Nachricht von der Tagesschau-App. Unser Kopf brummt.

Studien beweisen das, was wir schon lange ahnen: Sie zeigen, dass Menschen bei der steigenden Zahl an kommunikativen Schnittstellen und Möglichkeiten vorrangig überfordert sind (Robinson, 2014; Rosen & Samuel, 2015). Die oft so positiv konnotierte Vielfalt von Informations- und Kommunikationstechnologien kann schnell zur Last werden. In diesem Zusammenhang sprechen WissenschaftlerInnen von einem Konzept das als „Technostress“ bezeichnet wird (Ayyagari, Grover & Purvis, 2011; Ragu-Nathan, Tarafdar, & Ragu-Nathan, 2008).

Diskrepanz zwischen Ressourcen und Anforderungen

Bei dem Begriff „Technostress” handelt es sich um ein von der pathologischen Psychologie geprägtes Konzept, das sich mit den Folgen der IKT beschäftigt, die unseren Alltag maßgeblich mitbestimmen. In einer frühen Definition bezieht sich der Begriff auf „eine moderne Anpassungskrankheit, die durch die Unfähigkeit verursacht wird, mit den neuen Computertechnologien auf gesunde Weise umzugehen“ (Brod, 1984). Wer hieraus den Schluss zieht, dass demnach vor allem Menschen betroffen sind, die nicht in einer digitalisierten Welt aufgewachsen sind und „Digital Natives“ von diesem Phänomen ausgeschlossen sind, irrt. Vielmehr geht es im Kern des Technostress-Modells darum, dass Arbeitnehmende Bedrängnis empfinden, wenn sie eine Diskrepanz zwischen ihren Ressourcen (zum Beispiel Zeit, Energie, Fertigkeiten, Wissen) und den Anforderungen, die ihr Arbeitsumfeld an sie stellt, wahrnehmen (Lei & Ngai, 2014). Und das unabhängig von Alter und technischem Wissensstand.

In Zeiten wie diesen stehen wir somit vor dem Phänomen des „Technologie-Paradoxon“ (Hajli, Ibragimov & Sims, 2015). Denn Hand aufs Herz: Nur durch IKT ist es vielen Arbeitnehmenden in der aktuellen Lage überhaupt erst möglich zu arbeiten. Man bleibt weiterhin vernetzt, man verbessert seine Fähigkeiten Zeit und Raum flexibler zu nutzen, Aufgaben verdichten sich und so wird der ein oder andere vielleicht sogar produktiver. Und gleichzeitig schafft sie auch enorme neue Herausforderungen, denen sich jede/r ArbeitnehmerIn stellen muss: ständige Mehrfachbelastung, permanente Konnektivität, Informationsüberlastung, häufigem Funktionswechsel, kontinuierlichem Lernen, arbeitsbedingter Unsicherheit und technischen Problemen.

Der übermäßige Einsatz von IKT im Berufsleben verursacht also Stressoren und kann zu Konflikten zwischen Arbeit und Privatleben, Arbeitsüberlastung und Rollenmehrdeutigkeit führen (Ayyagari et al., 2011). Forschende haben darauf hingewiesen, dass Arbeitnehmende in Telearbeits-Umgebungen, in denen Kommunikation und Interaktion von solchen Technologien abhängig sind, besonders anfällig für diese Art von arbeitsbedingtem Stress sind (Weinert, Maier, Laumer & Weitzel, 2014). Deutlich ausgeprägter kann Technostress bei Menschen auftreten, die lange Zeit in einer „analogen“ Arbeitswelt tätig waren. Sie erfahren einen erhöhten Arbeitsstress, da sie mit schnellen und grundlegenden Veränderungen der Arbeitsumgebung umgehen müssen und mit dem technologischen Wandel Schritt halten müssen (Sou & Lee, 2017).

Die aktuelle Beschleunigung der Digitalisierung begünstigt demnach Technostress und kann einerseits physische Symptome wie Kopfschmerzen, emotionale Labilität, Konzentrationsprobleme oder Angstgefühle auslösen, so wie anderseits eine geminderte Produktivität, Motivations- und Innovationsschwäche zur Folge haben (Ragu-Nathan et al., 2008).

Stressbewältigungsprozesse sind immer individuell

Natürlich sei an dieser Stelle gesagt, dass nicht jede Person gleich auf digitale Technologien reagiert bzw. gleich gestresst ist. Aus diesem Grund ist es durchaus sinnvoll sich die Frage zu stellen, wie Stress überhaupt zu definieren ist. Das wohl bekannteste Modell hierfür ist das transaktionale Stresskonzept von Richard Lazarus (Lazarus & Launier, 1981). Er unterscheidet zwischen drei Stufen der Bewertung.

Im ersten Schritt erfolgt eine Bewertung der vorgefundenen Situation in positiv, irrelevant oder potenziell gefährlich (stressend). Tritt Letzteres ein, erfolgt die zweite Stufe und eine Analyse der verfügbaren Ressourcen zur möglichen Bewältigung findet statt. Erst wenn die betroffene Person ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen der vorgefundenen Situation und den eigenen verfügbaren Bewältigungsressourcen wahrnimmt, entsteht eine Stressreaktion. Das darauffolgende Bewältigungsverhalten kann dann entweder problem- oder emotionsorientiert erfolgen. Welcher Mechanismus angewendet wird, hängt immer von der Person und Situation ab. Im letzten Schritt wird die gewählte Bewältigungsstrategie bewertet, und hat somit Einfluss auf zukünftige Stresssituationen. Dieser Bewältigungsprozess gelingt vor allem im IKT-Kontext manchen Personen besser als anderen (Srivastava, Chandra & Shirish, 2015).

Berührungsängste mindern

Abgesehen von dieser individuellen Perspektive auf das Thema Technostress gibt es natürlich auch Wege wie Organisationen ihre Arbeitnehmende ergänzend zu den jeweils persönlichen „coping strategies“ unterstützen können. So können beispielsweise Fortbildungen zur Erlangung von IKT-relevantem Wissen und technischer Support proaktiv angeboten werden. Aber auch eine gelebte Fehlerkultur im Unternehmen kann helfen, Berührungsängste mit technischen Neuerungen zu mindern und so auch den Stressfaktor zu reduzieren.

Das Problem bei solchen Maßnahmen ist allerdings, dass sie nur funktionieren, wenn sie professionell und authentisch auf- und umgesetzt sind. Einfacher dürften daher ganz punktuelle Maßnahmen sein, die jede/r ArbeitnehmerIn als Individuum für sich berücksichtigen kann: An dieser Stelle sei daher noch einmal explizit auf die klare Trennung zwischen Online und Offline verwiesen. Hierfür können Mittel helfen, die zur geistigen und körperlichen Entspannung führen, sowie die aktive Unterbrechung der digitalen Kommunikation für einige Zeit sicherstellen. Es können zum Beispiel mentale Techniken (Konzentrationsübungen, Meditation, Yoga), Sporttechniken oder regenerative Techniken (natürliche Ernährung, Homöopathie, Naturheilkunde) verwendet werden. Aber auch Mitarbeitende untereinander können sich gegenseitig unterstützen, indem beispielsweise keine E-Mails mehr am späten Abend verschickt werden, bzw. die Funktion des „zeitversetzten Versendens“ genutzt wird.

Eigentlich ist es ganz einfach: In Zeiten wie diesen gilt es mehr denn je, reflektiert zu bleiben und auf einander aufzupassen. Und so kann und sollte ein jeder – egal ob Individuum, KollegIn, Führungskraft oder Organisation – seinen Teil zur Prävention von Technostress beitragen.

Quellen: