Wen wir wirklich wollen, schätzen wir (in)korrekt ein

Während heute nur vereinzelt für bestimmte Branchen und Berufsgruppen von Arbeitnehmermärkten gesprochen werden kann, wird dieser Trend voraussichtlich schon bald zu einer Herausforderung auf volkswirtschaftlicher Ebene, die eine grundlegende Anpassung der Personalpolitik deutscher Unternehmen erfordert (Möller & Wolter, 2014). Mit dieser Entwicklung rückt bei Bewerbungsgesprächen neben der Beurteilung des Bewerbers immer mehr in den Fokus, den Bewerber aktiv von der vakanten Position und dem Unternehmen zu überzeugen. Gerade wenn ein Bewerber sehr attraktiv für das Unternehmen erscheint, kann die Motivation, den Bewerber zu begeistern („selling orientation“), sogar in den Vordergrund eines Bewerbungsgesprächs treten. Zeichnet sich hier ein Konflikt ab? Beeinflusst eine Fokussierung auf das „Verkaufen“ des Jobs die Fähigkeit des Interviewers, die zukünftige Leistung des Bewerbers on-the-job einzuschätzen?

Eine aktuelle Arbeit von Jennifer C. Marr und Dan M. Cable (2014) bringt Licht ins Dunkel. Die Forscher führten mehrere Studien durch, in denen sie sich auf die Einschätzung der zentralen Selbstbewertungen fokussierten. Das Konzept der zentralen Selbstbewertungen („core self-evaluations“, kurz: CSE) konnte sich unter den Persönlichkeitsmerkmalen als bester Prädiktor für berufsbezogene Outcomes wie Arbeitsmotivation, Job Performance, und Jobzufriedenheit etablieren (Judge 2009; vgl. auch Ganzach & Pazy, 2014). Es handelt sich bei den zentralen Selbstbewertungen um eine übergreifende Charaktereigenschaft, welche die grundlegenden Bewertungen der eigenen Person, insbesondere der Fähigkeiten und Kompetenzen, reflektiert (Judge, 2009).

Damit hat die Fähigkeit eines Interviewers, die zentralen Selbstbewertungen eines Bewerbers einzuschätzen, einen gravierenden Einfluss darauf, inwiefern er zuverlässige Prognosen über die spätere berufliche Leistung dieses Bewerbers abgeben kann. Wie eine verstärkte „Verkaufsorientierung“ in Bewerbungsgesprächen die Einschätzung der zentralen Selbstbewertungen beeinflusst, war in der Forschung vor der Arbeit von Marr und Cable (2014) ungeklärt.

In einem ersten Schritt haben die Wissenschaftler in simulierten Bewerbungsgesprächen mit Laien untersucht, unter welchen Bedingungen „Interviewer“ die zentralen Selbstbewertungen von „Bewerbern“ besser einschätzen können – wenn sie sich auf die Beurteilung des Bewerbers oder auf die Attraktion des Bewerbers konzentrieren. Wenn der Interviewer zuvor instruiert wurde, sich vorrangig auf die Beurteilung des Bewerbers zu konzentrieren, zeigte sich eine hohe Übereinstimmung von Selbst -und Fremdeinschätzung. Wenn sich der Interviewer hingegen auf die Attraktion des Bewerbers konzentrieren sollte, zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen den selbstberichteten zentralen Selbstbewertungen des Bewerbers und der Einschätzung dieser seitens des Interviewers. Auf die Attraktion konzentrierte Interviewer waren also nicht in der Lage, zwischen geeigneten und ungeeigneten Bewerbern zu unterscheiden.

Aufsetzend auf diesem Ergebnis haben Marr und Cable zwei Feldstudien durchgeführt. Hier arbeiteten sie nicht nur mit „echten“ Interviewern und Bewerbern, sondern prüften auch den Zusammenhang mit späterer Job Performance.

Sie erhoben Informationen zu Bewerbungsgesprächen für MBA-Programme bzw. Lehrerpositionen an US-amerikanischen Schulen. Konkret haben die Forscher analysiert, ob ein Zusammenhang zwischen der Einschätzung der zentralen Selbstbewertungen eines Bewerbers seitens des Interviewers und dem späteren beruflichen Erfolg des Bewerbers besteht. Dabei wurde der Erfolg bspw. im Falle der MBA-Kandidaten anhand der Anzahl der Jobangebote gemessen, die sie nach ihrem Abschluss erhielten.
Es zeigte sich bei Interviewern, die im Anschluss an ein Bewerbungsgespräch angaben, vorrangig auf die Attraktion des Bewerbers fokussiert gewesen zu sein, kein Zusammenhang zwischen deren Einschätzung der zentralen Selbstbewertungen des Bewerbers und dessen späteren Erfolgs. In anderen Worten: Die Interviewer waren nicht in der Lage, auf Basis ihrer Einschätzung der zentralen Selbstbewertungen des Bewerbers dessen zukünftigen Erfolg vorherzusagen. Gaben Interviewer jedoch an, vorrangig auf die Beurteilung des Bewerbers fokussiert gewesen zu sein, war die Einschätzung der zentralen Selbstbewertungen mit entsprechendem späteren Erfolg assoziiert: Besser eingeschätzte Bewerber waren tatsächlich erfolgreicher als die schlechter eingeschätzten Bewerber.

Diese Erkenntnisse deuten auf einen Stolperstein in der Rekrutierungspraxis hin: Wenn Bewerber besonders attraktiv für das Unternehmen sind, werden Interviewer vor allem darum bemüht sein, den Bewerber von der vakanten Position und dem Unternehmen als Arbeitgeber zu überzeugen. Gerade dann laufen sie aber Gefahr, den tatsächlichenroter Wert des Bewerbers für das Unternehmen nicht einschätzen zu können. Relevant sind diese Erkenntnisse insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Da diese im Vergleich zu Großunternehmen zumeist eine weniger starke Arbeitgebermarke haben und tendenziell mehr Schwierigkeiten, viele gute Bewerbungen zu erhalten, kann eine wohl oder übel notwendige „Verkaufsorientierung“ in Vorstellungsgesprächen angenommen werden. Damit verbunden ist das Risiko, die zukünftige Job Performance der Bewerber nur unzureichend einschätzen zu können, woraus wiederum ein erhöhtes Risiko von Fehlentscheidungen bei der Rekrutierung aus einem ohnehin dezimierten Bewerberpool resultiert. Grundsätzlich bietet es sich also an, nach Möglichkeit Beurteilung und Attraktion von Bewerbern formal zu trennen, bspw. durch zwei aufeinanderfolgende Bewerbungsgespräche mit unterschiedlichen Interviewern (Rynes, 1991).

Quellen