Postulierte Chancengleichheit verstärkt genderspezifische (Un)Gerechtigkeit

Genderspezifische Benachteiligung von Frauen im beruflichen Alltag ist ein allgemein anerkanntes Problem. In Deutschland ist weniger als jede dritte Führungskraft weiblich, der geschlechtsspezifische Verdienstunterschied ist im internationalen Vergleich am höchsten und der bereinigte Gender Pay Gap, d.h. der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen mit vergleichbaren Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiographien, liegt bei 7 %. Programme zur Förderung der Chancengleichheit greifen zu wenig. Die Muster der Benachteiligung sind hartnäckig.

Was kann getan werden, um diese Muster zu unterbrechen? Im Kontext des Diskurses herrscht die allgemeine Überzeugung, dass meritokratische Unternehmenswerte und daraus abgeleitete Beurteilungssysteme der Benachteiligung von Frauen bei gleicher Tätigkeit, Qualifikation und Performance entgegenwirken. Der Grundgedanke der Meritokratie basiert auf dem Prinzip der Leistungsgesellschaft. Mitarbeiter werden ausschließlich nach ihrer erbrachten Leistung und ihrem Wertbeitrag beurteilt und belohnt. Genderspezifische Benachteiligungen, hervorgerufen durch stereotype Annahmen und daraus resultierenden impliziten Beurteilungsmustern, sollen verhindert werden.

Eine Studie von Emilio J. Castilla (MIT) und Stephen Bernard (Indiana University) hat das Gegenteil gezeigt: Wenn sich eine Organisation als Meritokratie definiert, dies in ihren Leitwerten verankert und Beurteilungssysteme danach ausrichtet, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Führungskräfte männliche Mitarbeiter vor ihren weiblichen Kollegen, bei gleicher Leistung, und bei Entgelt- und Karriereentscheidungen bevorteilen. Es kommt zu subtilen Verzerrungen zum Nachteil von Frauen.

Die Ergebnisse der Studie basieren auf drei Experimenten mit insgesamt 445 Teilnehmern. Führungskräfte wurden dazu aufgefordert, genderspezifisch manipulierte Mitarbeiterprofile zu beurteilen und unter Berücksichtigung der beschriebenen Organisationkultur Empfehlungen für Einstellung, Beförderung und Boni auszusprechen. Ein Teil der Organisationen wurde als meritokratisch beschrieben, der andere Teil nicht.

Das Ergebnis ist überraschend: Wenn eine Organisation explizit als meritokratisch dargestellt und das Grundprinzip einer leistungsorientierten objektiven Entgeltbemessung betont wurde, fielen die Bonuszahlungen an männliche Mitarbeiter höher aus, als die an leistungsgleiche weibliche Kolleginnen mit demselben Job, demselben Supervisor und derselben Leistungsbeurteilung. Die Favorisierung von Männern bei Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen konnte ebenfalls festgestellt werden, der genderspezifische Unterschied fiel aber geringer aus. Der Effekt trat auf, unabhängig, ob es sich bei der beurteilenden Führungskraft um eine Frau oder einen Mann handelte. Wurden die Organisationen nicht explizit als chancengleich und leistungsgerecht beschrieben, kam es nicht zu dieser genderspezifischen Ungerechtigkeit. Im Gegenteil, die Boni für Frauen waren etwas höher.

Daraus resultiert die Erkenntnis, dass die Proklamation von Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit auf der Grundlage meritokratischer Werte, sowie die Anwendung leistungsorientierter Beurteilungssysteme genderspezifische Diskriminierung provoziert und damit das meritokratische Prinzip konterkariert. Die Autoren nennen dies „das Paradox der Meritokratie“ in Führungsentscheidungen.

Doch, wie lässt sich dieser Effekt erklären? Ist die festgestellte höhere Ungleichheit in der Beförderung und Bezahlung von gleichleistungsstarken Frauen auf das meritokratische System an sich oder auf die Schwierigkeit, gendergerechtes Führungsverhalten zu etablieren, zurückzuführen? Die Wissenschaftler identifizierten einen direkten kausalen Zusammenhang, denn meritokratisch ausgerichtete Systeme können die kognitive Voreingenommenheit und Stereotypisierungen von Frauen verstärken.

Als ein Erklärungsmuster könnte das von Benoit Monin untersuchte Phänomen der „Moral Credentials“ dienen. Es führt dazu, dass Menschen eher vorurteilsbehaftete Einstellungen vertreten, wenn sie zuvor die Gelegenheit hatten, sich als vorurteilsfreier Mensch zu präsentieren. Die eigene Einschätzung wird nicht mehr so stark überprüft und man vertraut dem übergeordneten Wertesystem. So kann eine unbewusste stereotype Voreingenommenheit gegenüber Frauen unter dem Deckmantel der Leistungsgerechtigkeit mehr zum Vorschein kommen.

Ein weiteres Erklärungsmuster führt auf die Forschungsergebnisse von Uhlmann und Cohen zurück. In ihrer Studie „I think it, therefore it’s true“ weisen sie nach, dass die Überzeugung von der eigenen Objektivität genderspezifische Benachteiligung verstärken kann. Durch eine meritokratische Unternehmenskultur wird diese erlebte Objektivität verstärkt. Führungskräfte neigen dann stärker dazu, ihre negative Einstellung gegenüber weiblichen Mitarbeitern in Führungsentscheidungen einfließen zu lassen – teilweise unbewusst. In anderen Worten, desto mehr die Führungskräfte an das sie umgebende System glaubten, desto mehr kamen die eigenen Vorurteile ungeprüft zum Tragen.

Was lernen wir daraus? Wie können die Muster der genderspezifischen Benachteiligung und das Paradox der Meritokratie durchbrochen werden?

Die existierenden Programme zur Förderung der Chancengleichheit und beruflichen Gleichberechtigung der Frau zeigen nicht die gewünschte Wirkung. Die auf individueller Ebene existierenden negativen Vorannahmen gegenüber Frauen im beruflichen Kontext müssen bewusst gemacht werden. Dabei ist entscheidend, die Unternehmenswerte so zu artikulieren und umzusetzen, dass Mitarbeiter dafür Verantwortung übernehmen. Ziel ist es, Geschlechterdiskriminierung transparent zu machen, die Folgen zu analysieren und unternehmensspezifische Interventionen zur Unterbrechung zu definieren. Die in einem Organisationssystem inhärenten Verzerrungen bleiben bestehen, wenn sie nicht absichtlich, iterativ und kontinuierlich durchbrochen werden.

Quellen