Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Leadership-Kultur in den Unternehmen aus? Eine empirische Untersuchung der Energy Factory St. Gallen gemeinsam mit HRpepper Management Consultants verdeutlicht, dass Spitzenführungskräfte offenbar zu Realitätsverlust neigen. Sie schätzen sowohl ihre eigene Arbeit als Krisenmanager als auch die Kultur ihres Unternehmens deutlich positiver ein als andere Organisationsmitglieder.

Von Prof. Dr. Heike Bruch und Dr. Matthias Meifert

Energy Factory St. Gallen und HR Pepper Management Consultants haben gemeinsam untersucht, wie sich die aktuelle Krise auf Leadership, Kultur und Erfolg auswirkt. Unsere empirische Erhebung orientiert sich an der Forschungsarbeit und dem New Work & Culture Check der Universität St. Gallen (Bruch, Block & Färber, 2016). Unser erster Beitrag zeigte, dass Unternehmen derzeit sehr unterschiedlich mit modernen Arbeitsformen und -kulturen umgehen. Während einige die Chance einer beschleunigten New-Work-Transformation nutzen, beschränken sich andere bisher auf die direkt durch den Shutdown bedingten neuen Arbeitspraktiken, wie beispielsweise Homeoffice oder verstärkte digitale Kommunikation (Bruch & Meifert Juni 2020).  Die eigentlichen Potenziale für schnelleres, flexibleres und innovativeres Arbeiten liegen jedoch gerade in den Faktoren, die diese Unternehmen noch nicht (weiter)entwickelt haben, und zwar flexible Strukturen, Vertrauenskultur, die Selbstkompetenz der Mitarbeitenden und eine inspirierende Führung. Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die Top-Führungskräfte in der Krise.

CEOs leben in der Krise in einer Scheinwelt, Gefahr von Realitätsverlust

Unsere im April durchgeführte Befragung zeigt, dass CEOs eine moderne Arbeitskultur signifikant positiver wahrnehmen als alle anderen Organisationsmitglieder (siehe Abbildung). Dies gilt sowohl für die konkrete Ausgestaltung der Arbeit durch fluides und individualisiertes Arbeiten, wie auch für generelle Kulturaspekte, wie flexible Strukturen, die hierfür erforderlichen Selbstkompetenzen der Mitarbeitenden und eine visionäre und vorbildhafte Führung. Die Beurteilung des eigenen Führungsverhaltens durch die CEOs ist hier besonders auffällig: Sie nehmen Leadership des obersten Managements so positiv wahr, dass sie von der Wahrnehmung anderer Unternehmensmitglieder deutlich entkoppelt sind. Insbesondere schreiben sich die CEOs eine ausgeprägte Führung mit Inspiration und Vision zu und meinen, überdurchschnittlich vorbildlich zu agieren.

Auffällig ist, dass selbst die in unmittelbarer Nähe der CEOs arbeitenden Mitglieder der Geschäftsleitung über eine deutlich schwächere Ausprägung einer modernen Arbeitskultur berichten als die Vorsitzenden. Dies gilt für alle Aspekte (siehe Abbildung). Wie wenig die Geschäftsführung als Team zu agieren scheint, zeigt sich daran, dass selbst die Mitglieder der Geschäftsleitung in ihrer Wahrnehmung viel stärker mit den übrigen Unternehmensmitgliedern übereinstimmen als mit dem CEO. Lediglich bezüglich der Selbstkompetenz der Mitarbeitenden ist die Bewertung durch weitere Unternehmensmitglieder positiver als durch die weiteren Mitglieder der Geschäftsleitung.

CEOs geht es persönlich wie anderen

Eine mögliche Erklärung für die gezeigten differierenden Wahrnehmungen könnte sein, dass CEOs generell die Situation positiver beurteilen. Dem ist jedoch nicht so (siehe Abbildung). In dem Frageteil, in dem es um die Beurteilung der eigenen Arbeitssituation geht, antworten sie ähnlich wie andere Führungskräfte und Mitarbeitende im Unternehmen. Persönlich nehmen die CEOs die aktuelle Ausnahmesituation offensichtlich wie alle anderen wahr. So zeigen sich hinsichtlich der Frage nach der aktuellen Belastung bei der Arbeit keine signifikanten Unterschiede der CEOs zu den übrigen Unternehmensmitgliedern. In der Gesamtstichprobe berichten 22 Prozent der Befragten, dass sie an ihre Belastungsgrenze gelangen. Bei den CEOs sind es 17 Prozent. Dies zeigt, dass auch ein nennenswerter Teil der CEOs zurzeit an ihre Grenze gerät. Auch bezogen auf ihr Wohlbefinden bei der Arbeit und ihre eigene Produktivität sind die Angaben der CEOs mit den übrigen Einschätzungen vergleichbar. So berichten 67 Prozent der CEOs über ein starkes bis sehr starkes Wohlbefinden bei der Arbeit. Rund 78 Prozent berichten über eine starke bis sehr starke Produktivität. In der Gesamtstichprobe sind es knapp 61 Prozent bzw. rund 64 Prozent.

Mittleren Managern fehlt Führung, Laissez-faire verbreitet

Das mittlere Management erfährt aktuell zum Teil wenig vorbildhafte Führung durch Inspiration und Vision, ist gleichzeitig aber hoch belastet. Konkret beantworten knapp ein Drittel der mittleren Manager und Managerinnen die Frage, ob sie mit Vision und Inspiration geführt werden mit „Nein” oder „Eher nein”. Außerdem fehlen vielen mittleren Führungskräften Vorbilder im obersten Management. So gibt rund die Hälfte an, dass ihr Top-Management (eher) kein Vorbild für moderne Arbeitsformen ist. Gleichzeitig erfahren Mitglieder des mittleren Managements kaum Empowerment, das heißt die Möglichkeit selbstbestimmt in flexiblen Strukturen zu arbeiten. So geben 18 Prozent an, wenig oder überhaupt keine strukturelle Flexibilität zu erleben, unter den Abteilungsleiterinnen und -leitern ist es sogar rund ein Drittel. Dies schlägt sich entsprechend in der Belastung der Führungskräfte nieder. So bejaht etwa ein Viertel bis ein Drittel der Führungskräfte des mittleren Managements, in Abhängigkeit ihrer Hierarchieebene, die Frage, ob sie bei der Arbeit an ihre Belastungsgrenze geraten. Zugespitzt formuliert, fühlen sich nennenswerte Teile des mittleren Managements allein gelassen.

Allerdings erleben nicht alle mittleren Manager eine Laissez-faire-Führung. Im Gegenteil, denn rund 20 Prozent der mittleren Manager nehmen ihr Top-Management als Vorbild wahr, werden inspirierend geführt, fühlen sich empowert und arbeiten in flexiblen Strukturen. Und genau diese mittleren Führungskräfte arbeiten deutlich produktiver, fühlen sich wohl bzw. weniger stark an der Belastungsgrenze bei der Arbeit. Das heißt, es ist durchaus kein allgegenwärtiges Muster oder gar ein Automatismus, dass das mittlere Management zurzeit überfordert ist. Durch ein aktives Empowerment und Leadership an der Spitze wird diese wichtige Gruppe nicht zum Engpass in der Transformation, sondern zu einer tragenden Führungsgruppe.

Leadership- und People Development: Vorbild sein – Führungskrise vermeiden

In einigen Unternehmen zeichnet sich eine handfeste Führungskrise ab, während wir in anderen Unternehmen Vorbilder an der Spitze sehen und Führungskräfte, die richtig positiv führen. Da Leadership, New Work und Kultur weitreichende Effekte auf die Bewältigung der Krise haben, sollten alle Verantwortlichen diese Befunde sehr ernst nehmen. Es ist kulturelles Gift, wenn sich die Wahrnehmungen zum Zustand der Organisation verschiedener Führungskräfte so eklatant unterscheiden und belastete Manager und Managerinnen sich nicht unterstützt fühlen. Von den positiven Vorbildern kann man gleichzeitig Wichtiges lernen. Wir empfehlen besonders sechs Aktivitäten zur Stärkung von Leadership- und Vorbildhandeln in der Krise.

Change und Development: Stärkung von Leadership- und Vorbildhandeln in der Krise

  1. Bringen Sie Top-Manager mit ihrer Organisation in den intensiven Dialog und stärken Sie offenes Feedback, um blinde Flecken oder eine verzerrte Wahrnehmung zu vermeiden.
  2. Top-Führungskräfte sollten sichtbar als Vorbild auftreten. Symbolhafte authentische Handlungen helfen zum Beispiel, Vertrauen, Zuversicht und eine inspirierende Vision zu vermitteln.
  3. Nutzen Sie Sensoren der Unternehmung wie Change Agent- oder Botschafter-Netzwerke. Unterstützen Sie gegebenenfalls durch regelmäßige Puls-Checks, um zu sehen, wie es Führungskräften und Mitarbeitenden geht. So können Sie Leadership und Kultur in dieser neuen Situation gezielt verbessern und bestmöglich die Krise bewältigen.
  4. Machen Sie Belastungen und Grenzerfahrungen besprechbar und bieten Sie auf den unterschiedlichen Führungsebenen gezielt Unterstützung bei virtuellem Arbeiten an.
  5. Empowern Sie Führungskräfte durch flexible Strukturen sowie fluide Arbeitsformen und entwickeln Sie die Selbstkompetenzen aller Mitarbeitenden.
  6. Fördern Sie Leadership Skills, die helfen, eine inspirierende Führung auch im Remote-Modus umzusetzen.

Es liegt somit in der Verantwortung der Spitzenführungskräfte, ihre Sicht auf die aktuelle Führungskultur im Unternehmen zu überprüfen, ihr eigenes Verhalten sichtbar zu adjustieren sowie dem mittleren Management den Rücken zu stärken. Mut, ein Commitment zu modernem Arbeiten und sichtbares Vertrauen in die Mannschaft sind gefragt. Dabei müssen Top-Führungskräfte keine Superhelden sein. Auch eigene Fehler, Grenzen oder bestimmte Unsicherheiten bezogen auf die komplexen Anforderungen gehören zur Glaubwürdigkeit.

Rückenstärkung und Empowerment für das mittlere Management

Unsere empirischen Ergebnisse legen außerdem nahe, dass insbesondere mittlere Führungskräfte eine Rückenstärkung brauchen, um einer Überlastung vorzubeugen. Dazu gehört aktive Unterstützung durch Führung und Empowerment, aber auch eine gezielte Reduktion von Belastungsfaktoren. Gleichzeitig wird in der aktuellen Transformation das HR Management vielleicht mehr als je zuvor gebraucht, nämlich als Kulturbegleiter und Chance Agent für die Führung. Vor allem ist ein wichtiger Beitrag gefragt, wenn es darum geht, die Sprachlosigkeit der Führungsebenen zu vermindern und Leadership von CEOs und anderen Führungskräften zu verbessern.


Autoren:*

Prof. Dr. Heike Bruch, Professorin für Leadership der Universität St. Gallen

Dr. Matthias Meifert, Managing Partner & Gründer der HRpepper Management Consultants, Berlin

* Unter Mitwirkung des Forscherteams mit Fabian Möller (energy factory, St. Gallen) und Dr. Sarah Meeßen (HRpepper Management Consultants)

Quellen: