Mind-wandering ist (k)ein Kreativitätsbooster

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Einfach mal die Gedanken schweifen lassen? Unser Gehirn braucht diese regelmäßigen Unterbrechungen des Denkmodus, um kreative Prozesse auszulösen. Vor allem im beruflichen Kontext machen kurze Pausen Sinn. Der Erfolg von Unternehmen hängt schließlich auch davon ab, wie gut sie das kreative Potenzial ihrer Mitarbeitenden fördern und nutzen können.
Von Ulrike Dittrich

„Die Kohlekommission steht bei ihren Verhandlungen für ein Konzept zum Kohleausstieg vor einer Marathonsitzung“, schrieb die Süddeutsche Zeitung am 25. Januar 2019. „Teilnehmer rechneten mit schwierigen Beratungen bis in die Nacht hinein, auch eine Vertagung galt als möglich.“ Was für kreative Ergebnisse erwarten wir in der Regel von einer solch exzessiven Arbeitssession? Wenige! Für die Qualität von Entscheidungsprozessen in unsicheren, komplexen und vor allem spannungsgeladenen Situationen ist Kreativität allerdings unverzichtbar. Kreativität und Flexibilität sind notwendig, wenn komplexe Gemengelagen mit unterschiedlichen Interessen und Bedarfen verhandelt werden müssen. Wenn Unternehmen in der Transformation heute noch nicht ihre Probleme von morgen kennen. Sie müssen Praktiken des flexiblen Denkens und kreativer Lösungsfindung in ihren Organisationen verankern, wenn sie ihre Innovationskraft nachhaltig sichern wollen.

Innovative Lösungen entstehen fast immer in zwei Phasen

Kreatives Denken wird in den Neurowissenschaften als zweiphasiger Prozess definiert – als divergentes und konvergentes Denken: Der ungesteuerten Generierung von kreativen Ideen folgt ein Prozess der Bewertung, Auswahl und Verfeinerung. Kreative Produkte zeichnen sich durch ihren Neuigkeitswert und ihren Nutzen aus. Der Design Thinking-Ansatz etwa orientiert sich im Wesentlichen an diesem Schema. Lassen wir die Gedanken schweifen, vollzieht sich ein ähnlicher Prozess: Wir generieren spontan Gedanken, die nichts mit einer Aufgabe oder unserer Umgebung zu tun haben. Im Anschluss reflektieren und bewerten wir sie bewusst.

Mehr Einfallsreichtum durch Bewegung

Wie können wir unser Gehirn bei dieser wichtigen Arbeit unterstützen? Es ist am ehesten in der Lage, eigene Denkinhalte zu erzeugen, wenn die Anforderungen aus der Umwelt an unser Gehirn möglichst gering sind. Heißt: wenn wir sehr einfache oder Routine-Arbeiten ausführen. Die Idee, dass auch Bewegung das Nachdenken und Problemlösen unterstützt, reicht zurück bis in die peripatetische Schule der griechischen Antike und setzte sich durch die Jahrhunderte bis heute fort. „Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze“, schrieb Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert. Da ist was dran: Eine der jüngsten Studien zu dem Thema belegt, dass divergentes Denken durch freies, ungehindertes Gehen gefördert wird. Proband:innen, die an Guilford’s alternate uses task (AUT), einem klassischen Kreativitätstest aus der psychologischen Forschung, teilnahmen, hatten – im Vergleich zur Sitzhaltung – einen signifikant höheren kreativen Output während sie liefen oder gingen. Studien kamen auch zu dem Ergebnis, dass eine Erweiterung des Sichtfelds und der Aufmerksamkeit zu mehr Flexibilität im Denken und kreativen Ideen beiträgt. Dagegen schränkt die Fokussierung der visuellen Aufmerksamkeit auf einen schmalen Ausschnitt die Flexibilität ein.

Höhere Produktivität beim Abschalten

Das hat z. B. Folgen für unser Lernen und Arbeiten am Bildschirm: Normalerweise fixieren wir uns sitzend auf einen engen visuellen Rahmen, bestenfalls stehen wir dabei, bleiben aber körperlich statisch und mit dem Verstand eng fokussiert. Dabei schalten wir selbst häufig bewusst ab, um kreative Gedanken zu produzieren. 25 bis 50 Prozent unserer selbst- und ungesteuert generierten Gedanken werden über ein solch bewusstes Abschalten erzeugt. In dieser Kompetenz liegt ein noch größeres Potenzial für kreatives Arbeiten. Wenn das Gehirn im Leerlauf ist, öffnet sich der Raum für Ungewohntes und Geistesblitze. In diesem Zustand sind manche Bereiche im Gehirn stärker aktiv, als wenn wir stundenlang gezielt ein Problem zwischen unseren Hirnwindungen herum kneten: Das zielgerichtete Denken bereitet den Boden für Lösungen vor, aber oft kommen wir erst unter der Dusche zur durchschlagenden Erkenntnis.

Es gibt simple Strategien, um unser kreatives Potenzial zu entfalten, digitales Arbeiten und Lernen zu unterstützen und den Flow der Ideen zu fördern, etwa indem wir uns Perioden freier Bewegung zur Gewohnheit machen, einen Ortswechsel vornehmen oder einfache motorische Bewegungen wie Zähneputzen und Spazierengehen – frei von Leistungsdenken – bewusst einschieben. Gerade Unternehmen, die auf einem hohen Anteil an Wissensarbeit aufbauen, benötigen eine solche Kultur des Flows. Abschaltzeiten sollten akzeptiert und gefördert werden, denn sie sind der Dünger für die Zukunftskompetenz Kreativität.

Quellen