Wir sind (nicht) intelligenter als Ich

Es mehren sich die Stimmen, die die steigende Komplexität in Organisationen als zentrale Herausforderung für Entscheider bezeichnen. Der einzelne Manager komme angesichts unüberschaubarer Entscheidungssituationen an die Grenzen seiner Fähigkeiten; die klassischen Methoden zur Entscheidungsfindung stehen vor ihrem Grenznutzen. Als Ausweg aus dieser „Komplexitätsfalle“ verweisen sowohl Managementratgeber als auch akademische Publikationen immer häufiger auf die Metapher des intelligenten Schwarms oder des Konzeptes der kollektiven Intelligenz.

Als Illustration der Kraft kollektiver Intelligenz wird typischerweise auf die Forschungsarbeit der Soziologin Kate Gordon Bezug genommen. Sie führte bereits in den 1920igern ein Experiment durch, bei dem 200 Probanden einige Gegenstände nach Ihrem Gewicht sortieren sollten. Der Durchschnitt aller Schätzwerte traf die realen Werte fast auf den Punkt. Nur fünf der Teilnehmer erzielen mit ihren eigenen Schätzungen ein besseres Ergebnis (Gordon, 1921). Als Fazit dieser Forschung kann gelten: Der Durchschnitt hat recht und wir sind tatsächlich intelligenter als ich.

Gilt dieses Fazit auch in Fällen, in denen es nicht um die triviale Schätzung von Gewichten sondern um komplexe Entscheidungen geht? In seiner bahnbrechenden Forschungsarbeit „Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“ (Dörner, 2009) zeigt der Leibnitz-Preisträger Dietrich Dörner auf, welche Denkfehler Gruppen und Kollektive in komplexen, vernetzten und hochdynamischen Handlungssituationen begehen. Diese Publikation relativiert den Optimismus der Anhänger der kollektiven Intelligenz. Dörner arbeitet mit unterschiedlichen Simulationen, anhand derer er Versuchspersonen bspw. in die Situation eines Entwicklungshelfers im fiktiven afrikanischen Tanaland versetzt und mit komplexen Entscheidungssachverhalten konfrontiert. In den Experimenten performen kollektive Entscheidungen schlechter als jene, die von Einzelpersonen getroffen werden. Die Forschungsarbeit zeigt, dass dies wesentlich auf gruppendynamische Prozesse zurück zu führen ist. Führungskräfte neigen dazu, Mitarbeiter einzustellen, die sich loyal zu ihnen und zur eigenen Gruppe verhalten und Gruppenregeln nicht in Frage stellen. Eigenständiges Denken und Kritik sind in diesen Gruppen nicht gefragt. Dadurch würden Fehlentwicklungen zu lange ignoriert, auch wenn alle Beteiligten sie erkennen.

Diese gruppendynamischen Verzerrungen führen dazu, dass die kollektiven Entscheidungen zu schlechteren Ergebnissen führen, als sie Einzelpersonen erreichen. Als Fazit kann formuliert werden: Wir sind unter den Bedingungen der dörnerschen Experimente nicht intelligenter als ich.

Ist kollektive Intelligenz nun bloßer Mythos oder hat sie das Potential, unsere drängendsten (Management-)Fragen zu lösen? So pauschal ist dies nicht zu beantworten. Menschen sind unter bestimmten Bedingungen im Kollektiv intelligenter als es Individuen sind. Wissenschaftler wie Praktiker stehen gegenwärtig vor der Herausforderung, diese Bedingungen besser zu verstehen. Auf diesem Wege sind noch nicht alle Antworten gefunden; vielmehr sind wir im Begriff, die richtigen Fragen zu stellen. Die Zukunft wird zeigen, für welche Aufgaben kollektive Intelligenz Potentiale bietet und auf welchem Wege diese Potentiale gehoben werden können.

Quellen