Warum uns die digitale Revolution (nicht) berührt

Industrie 4.0, Internet of Things oder Virtual Reality: Die „digitale Revolution“ ist in aller Munde. Sie geht bekanntermaßen durchaus mit gemischten Assoziationen einher. „Lernende Roboter werden nicht nur in der Produktion viele Jobs verdrängen, sondern auch im Büro“ titelt der Tagesspiegel (11. Januar 2016). Die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft in Verlierer und Gewinner wächst (Süddeutsche Zeitung am 22. Januar 2016). Bereits Ende der 1990er warnten Einzelne vor einer Entfremdung durch virtualisierte Arbeitstätigkeiten (Sennet, 2000). Heute bilden sich bereits Gegenbewegungen zum Online-Trend. Sie nennen sich „Offline-Trend“ oder „Digital Detox“ und finden beispielsweise in der Einführung von „E-Mail-Free-Fridays“ Ausdruck (vgl. Horx, Zukunftsreport 2016).

Eine spannende neue Perspektive auf diese Entwicklungen bietet die Forschung zur Bedeutung des Tastsinns für menschliche Interaktionen. Insbesondere in Zeiten der Digitalisierung verlassen wir uns größtenteils auf unsere visuelle Wahrnehmung. Während das Auge sich jedoch leicht überlisten lässt, sind wenig taktile Illusionen bekannt, so der Neurowissenschaftler Hubert Dinse von der Universität Bochum: „Der Tastsinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn und quasi der ehrlichste und bodenständigste unter unseren Sinnen“ (nach Retzbach, 2015).

Der Tastsinn spielt insbesondere im Kontext sozialer Interaktionen eine wesentliche, bisher wenig erforschte Rolle.

In diversen Tests zeigten Leonard und Kollegen (2014), dass eine kurze Berührung, zum Beispiel am Oberarm, eine warme Atmosphäre schaffen kann, die Hilfsbereitschaft erhöht, ebenso wie unsere Fähigkeit, Gefühle zu regulieren. Gleichzeitig nutzen Menschen subtile Informationsquellen – wie zum Beispiel nonverbales Verhalten – um zu entscheiden, wie kooperativ sie sich beispielsweise in einer Verhandlungssituation verhalten. Wirtschaftsforscher um Schroeder und Kollegen (2014) zeigten, dass Studenten sich in einer Verhandlungsübung kooperativer zeigten und offener über ihre Präferenzen sprachen, wenn sie sich vorher die Hand gegeben hatten.

Auch die heilenden Effekte von Berührungen können immer besser nachgewiesen werden. Patienten, die eine kurze Massage oder Berührung vom Krankenhauspersonal erfahren hatten, berichteten von einem Gefühl existentieller Zusammengehörigkeit, Trost, Entspannung oder Sicherheit. Gleichzeitig erhöhte die Berührung das Wohlbefinden des Krankenhauspersonals (Airosa et al., 2013).

Eisenberger (2013) erklärt diesen Effekt über den evolutionären Vorteil enger Beziehungen. Sind soziale Verbindungen bedroht, werde dasselbe neuronale und physiologische Alarmsystem aktiviert wie bei körperlichen Gefahren. Das soziale Netz war einst für das Überleben essentiell. Eine ähnliche Aussage trifft das SCARF Modell von Rock (2008), welches neuropsychologische Erkenntnisse in einem Management-Modell zu „hirngerechter“ Führung zusammenfasst. Der Buchstabe „R“ bezieht sich auf die Dimension der „Relatedness“. Relatedness beschreibt die Bedeutung des Gefühls der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Empfindet ein Individuum keine oder nur mangelnde Zugehörigkeit, wird vom Körper eine massive Bedrohungsreaktion erzeugt.

Während das SCARF-Modell beispielsweise in der Führungskräfteentwicklung bereits recht breiten Einsatz findet, werden die Erkenntnisse der Forschung zum Tastsinn im organisationalen Kontext bisher nur wenig eingesetzt. Welche Implikationen diese neuen Erkenntnisse für die Arbeitswelt bereithalten, lässt sich heute nur schwer vorhersagen.

Es zeichnet sich jedoch klar ab, dass unsere Wahrnehmung der Welt sowie unser Verhalten in sozialen Interaktionen deutlich stärker von unseren taktilen Sinnen beeinflusst werden, als bisher angenommen. Ein digitales Äquivalent für ein Händeschütteln gibt es zum Glück (noch) nicht.
Dabei scheint es ebenso wie z.B. eine leichte Berührung am Oberarm eine deutlich größere Rolle für unsere Verständigung zu haben, als bisher gedacht. Auch wenn dabei die Kontextangemessenheit nicht außer Acht zu lassen ist; sonst treten irgendwann ganz andere Probleme auf.

Quellen