Übung macht (noch längst nicht) den Meister

Wer erinnert sich nicht aus eigener Kindheitserfahrung oder heutigem Erziehungs­auftrag: Die elterliche Ermahnung, konsequenter am Musikinstrument zu üben, die Trainer-Aufforderung, noch drei Bahnen extra zu laufen oder zu schwimmen, oder auch das zähe Üben von Aufgaben zur Kurvendiskussion, um in der nächsten Mathe-Arbeit bessere Leistung zu erzielen?

Die Diskussion ob Experten geboren werden oder sich aber nur über jahr(zehnt)e lange Übung und Erfahrung herausbilden, wird bereits seit Mitte des 19ten Jahrhunderts geführt. Vor mehr als 20 Jahren hat eine Studie vermeidlich aufgezeigt, dass indivi­duelle Leistungsunterschiede insbesondere auf Übung zurückzuführen sind.

Übung wurde dabei festgelegt als strukturierte Aktivitäten, die zum Zwecke der Leistungs­steigerung verfolgt werden. Ergebnis dieser Untersuchung von Anders Ericsson an der Berliner Hochschule der Künste war, dass die „Besten“ im Fach Violine durchschnittlich bereits 7.410 Übungs­stunden geleistet hatten, die „Guten“ durchschnittlich bereits je 5.301 Stunden Übung mitbrachten und eine Vergleichsgruppe angehender Musiklehrer mit relativ gesehen niedriger musikalischer Leistung nur 3.420 Stunden im Schnitt geübt hatten.

Solche Resultate lassen sich auch populärwissenschaftlich vermarkten, Malcom Gladwell kreierte 2008 in seinem Buch Outliers die seit dem viel zitierte „10.000 Stunden-Regel“. Sein Kredo ist, dass man erst mit 10.000 Stunden Übung ein wirklicher Experte wird (was bei einer 40 Stunden Woche immerhin gut 5 Jahre bedeutet), dass somit aber auch Jedem der Weg zum Top Experten offen steht.

Hätten Sich meine Eltern mal stärker durchgesetzt, dann wäre ich jetzt Star Pianist.

Aber lässt sich empirisch wirklich belegen, dass mehr Übung höhere Leistung hervorbringt? Gilt dies für alle Disziplinen in Musik, Spiel, Sport, Schule und auch im Berufsleben?

Ein Forscherteam um Brook N. Macnamara vom Department of Psychology der Princeton University untersuchte mit einer Meta Analyse, ob der Zusammenhang zwischen Übung und Leistung wirklich belegbar ist. Hierzu werteten sie insgesamt 88 Studien mit zusammen 11.135 Teilnehmern aus. Zunächst die beruhigende Nachricht aus den Forschungsergebnissen: Nahezu alle gefundenen Korrelationen zwischen Übung und Leistung sind positiv. Allerdings: Über alle verschiedenen betrachteten Disziplinen hinweg lassen sich nur 12 % der Leistungsunterschiede durch ein entsprechendes Mehr oder Weniger an Übung erklären – oder eben andersherum: 88 % der Leistungsunterschiede basieren nicht auf verschieden intensiver Übung!

Schaut man detailliert in die verschiedenen untersuchten Disziplinen, zeigen sich große Unterschiede: Immerhin 26 % der Varianz von Performance-Unterschieden lassen sich im Bereich Spiele (z. B. Schach oder Scrabble) auf Übung zurückführen, 21 % im Bereich Musik (z. B. Klavier oder Geige) und 18 % erklärte Varianz im Sport (z. B. Fußball) wurden ermittelt.

Einen deutlich geringeren Zusammenhang aber gibt es im Ausbildungsbereich (Schule und Studium): nur 4 % erklärte Varianz im Feld „education“ sogar nur 1 % im Bereich „Professions“, hier lässt sich also kein nennenswerter Zusammenhang finden.

Als Ergebnis muss man also nüchtern festhalten: Das Maß an Übung ist nur ein mittelmäßiger Indikator für Leistungsunterschiede. Im Vergleich zu kognitiven Fähigkeiten sind Übung und Erfahrung deutlich weniger relevant, um Unterschiede der individuellen Leistung zu erklären Als Fazit sprechen die Forscher aus, dass Übung zwar wichtig ist, bei weitem aber nicht den Stellenwert zur Erklärung individueller Performance-Unterschiede aufweist, wie zumeist argumentiert wird.

Übertragen auf den beruflichen Kontext und spezifisch auf die HR-Arbeit heißt dies, dass wir trotz aller Coaches (s. auch BION 09/2014), Mentoren und Trainingsprogramme bei weitem nicht jeden Mitarbeiter in jeder Aufgabe erfolgreich machen können. Erfahrungsprofile können im Karrieremanagement wichtige zusätzliche Informationen bieten, als alleinige diagnostische Grundlage taugen sie wenig.

Quellen