Stress ist (un)gesund

Stress gilt es abzubauen oder am besten gleich ganz zu vermeiden. Stress Management Seminare sollen dabei helfen – mit Entspannungs- und Atemtechniken wird gelernt, zur Ruhe zu finden und so hoffentlich die schädlichen Folgen übermäßigen Stresses abzuwenden. Dass Stress etwas Böses ist, stellt kaum einer infrage. So glauben 85% der über 2.500 Befragten in einer Studie der Robert Wood Johnson Foundation und der Havard School of Public Health (2014), dass Stress ihnen schade. Kein Wunder, denn wenn es um Stress geht, werden wir allerorts davor gewarnt, wie die übermäßige Aktivierung unseres Sympathikus (der leistungssteigernde Teil unseres vegetativen Nervensystems, der unseren Körper auf Angriff oder Flucht vorbereitet) unseren Körper in dauernde Alarmbereitschaft versetzt, was langfristig u.a. zu einer geschwächten Immunkompetenz, Libidoverlust und Herzerkrankungen führen kann. Dabei ist die Kernaussage meist folgende: Früher hat uns die Stress-Antwort und die damit einhergehende Aktivierung des sympathischen Nervensystems das Leben gerettet. Damals half sie uns, mit einem extra Energieschub vor wilden Tieren zu flüchten oder sorgte aufgrund stressbedingt verengter Arterien bei Verletzung für weniger Blutverlust. Heute aber scheint sie inadäquat, unpassend, ein nutzloses, ja vielmehr schädliches Überbleibsel vergangener Zeiten. So gesehen sollten wir in der Tat alles tun, um Stress zu reduzieren. Aber ist das realistisch? Und ist das überhaupt notwendig?

Als Antwort auf die erste Frage lädt die Gesundheitspsychologin Kelly McGonigal zu einem Gedankenexperiment ein: Stellen Sie sich vor, sie würden jeden stressreichen Tag des letzten Jahres streichen. Ein Jahr leben komplett ohne Stress. Was bleibt dann übrig? War das dann ein glückliches Jahr? Oder haben Sie mit dem Stress gleichzeitig genau jene Momente aus Ihrem Leben gestrichen, die Ihrem Leben Sinn geben? Die Sie weitergebracht und Lernen ermöglicht haben?

In Ihrem Buch mit dem provokanten Titel: „The Upside of Stress – why stress is good for you“ (2015) zitiert McGonigal dazu passend Ergebnisse von Ng et al. (2011), welche anhand der Daten einer weltweiten Gallup Studie einen positiven Zusammenhang von erlebtem Stresslevel und well-being feststellen konnten. So gesehen ist es vielleicht gar nicht wünschenswert, ein stressfreies Leben zu führen.

Auch auf die zweite Frage der Notwendigkeit einer Stressreduktion hält die Forschung überraschende Erkenntnisse bereit. Denn es existieren zahlreiche Studien, die das genaue Gegenteil von dem zeigen, was die landläufige Meinung zu Stress annimmt: Stress kann uns helfen, mit herausfordernden Situationen umzugehen. Stress geht mit mehr Sinnempfinden im Leben einher. Ja, vermehrter Stress geht – beim richtigen Umgang damit – sogar mit einem Wachstum des Gehirnvolumens einher. Das klingt zunächst verrückt, oder?  Entscheidend für den positiven Nutzen von Stress scheint dabei unsere Haltung Stress gegenüber zu sein: Können wir Stress als eine Ressource erleben? Oder sind wir – wie die meisten – davon überzeugt, dass Stress schädlich ist?

Forscher in den USA werteten Daten der National Health Interview Survey von 1998 aus, bei der fast 30.000 Personen zu ihrem erlebten Stresslevel, ihrem Gesundheitszustand sowie danach befragt wurden, ob sie glaubten, dass Stress ihrer Gesundheit schade. Diese Daten wurden 2006 mit der Sterberate der Befragten verglichen (Keller et al., 2011). Es zeigte sich, dass Personen, die mehr Stress erlebt hatten, auch ein höheres Sterberisiko hatten. Das Überraschende am Ergebnis war allerdings, dass dies nur zutraf, wenn sie auch gleichzeitig von einem negativen Effekt von Stress auf ihre Gesundheit überzeugt waren. Andernfalls bestand der Zusammenhang nicht. Die Hypothese lag nahe, dass die eigene Haltung Stress gegenüber eine entscheidende Rolle bei den daraus folgenden Effekten spielen könnte.

Diesem Gedanken gingen mehrere Forscher nach und wurden bestätigt. So führten u.a. Jamieson et al. und Crum et al. mehrere Studien durch, bei denen sie Versuchspersonen in zwei Gruppen teilten: die erste Gruppe bekam jeweils Informationen darüber, dass Stressreaktionen des Körpers ein Zeichen dafür seien, dass mehr Energie zur Verfügung gestellt würde, um den Stressoren – z.B. Veränderungen während organisationalen Umstrukturierungen oder Krisenzeiten – aktiv zu begegnen (Experimentalgruppe). Die zweite Gruppe bekam Informationen darüber, wie schädlich Stress für sie sein konnte und dass es galt, diesen nach Möglichkeit zu vermeiden bzw. sie bekamen keine Stress-bezogenen Informationen (Kontrollgruppe). Die Ergebnisse deuten alle in dieselbe Richtung: Wenn wir den Gedanken zulassen, dass Stress helfen kann, schwierige Situationen zu meistern, können wir den Stress für uns arbeiten lassen: Zwar waren die Stressreaktionen der Teilnehmer in der Experimentalgruppe sogar noch höher als die der Kontrollgruppe (gemessen an der Konzentration von Stresshormonen in der Spucke der Teilnehmer), das individuelle Erleben der Stresssituation war aber deutlich angenehmer. Am Spannendesten ist aber wohl, dass die Experimentalgruppe objektiv bessere Leistungen zeigte als die Kontrollgruppe bzw. der Gesundheitszustand noch Monate später vergleichsweise besser war (vgl. Crum et al., 2013 und Jamieson et al., 2010).

Wenn Sie also das nächste Mal spüren, wie Ihr Herz wild klopft und Ihre Hände anfangen zu schwitzen, dann sagen Sie sich vielleicht: „Mein Körper stellt mir extra Energie zur Verfügung, um mein Bestes zu geben. Wunderbar, vielen Dank!“

Quellen